Der stürmische Qualifikationstag:
«Hai paura?», frage ich Raffaela Brutto, die sich an meiner Nackenstütze festklammert. «Ich habe immer Angst, wenn ich nicht selber am Steuer sitze», ruft die italienische Boardercrosserin aus. «Und bei solchen Bedingungen erst recht!» «Hat das Auto keinen Vierradantrieb?», wirft Michela Moioli dazwischen. «Doch, aber ich befürchte wir fahren mit Sommerpneu», schätze ich die Situation ein.
Dichtes Schneegestöber versperrt mir die Sicht auf die rutschigen Strassen. In der Nacht hat das Wetter gekehrt, ein kleiner Blizzard ist aufgezogen. Mit mir im Auto sitzen die beiden Italienerinnen und wir sind auf dem Weg zum Solitude Mountain Resort, wo wir in Kürze unseren Qualifikationstag für das zweite Weltcuprennen der Saison beginnen.
«Du nimmst viel Zug aus der Kurve mit», meint Mario anerkennend. «Grundspeed stimmt, die Linien kennst du. Jetzt kannst du bis zur ersten Bank noch am Timing arbeiten und etwas sauberer auf dem Board stehen und dann bist du gut bei den Leuten.» Ich nicke, seh mir meine Trainingsfahrten auf dem Weltcupkurs ein zweites Mal an und fühle mich bestätigt. Mein gutes Gefühl aus dem Training wird in der Videoanalyse gestärkt. Genau für solche Momente wie an jenem Trainingstag lohnt sich all die harte Arbeit den Sommer über. Es gibt für mich kaum etwas Schöneres als unter stahlblauem Himmel auf einem abwechslungsreichen Kurs Boadercross zu fahren. Ich freue mich aufs Rennen.
«Gib mir mein Rennboard», bitte ich Maxim, den Waxmann. «Ich brauche eine Rakete unter den Füssen, um bei all dem Schnee überhaupt vorwärts zu kommen!» Maxim präpariert mein Rennboard während ich mich für den ersten Trainingslauf aufwärme. Neuschnee macht die Strecke langsam, unberechenbare Windböen fegen über den Kurs. Wenn das nur gut kommt, denke ich mir im Stillen.
Die schlechte Zeit von 1:26:68 aus dem ersten Lauf lasse ich nicht so auf mir sitzen. Bei den wenigen Fahrerinnen am Start und vor der Tatsache, dass das Rennen in 6er Heats ausgetragen wird, fürchte ich mich zwar nicht um die Qualifikation. Aber ich kann das besser.
«Next rider in the gate. Start clear. Three, two, one. GO!» Ich ziehe mich mit aller Kraft aus dem Start, erste Passage ist geglückt. Mein Board läuft! Zu früh gefreut, nach der ersten Kuppe geht nichts mehr. Der erste grosse Sprung naht, meine Geschwindigkeit ist tief. Ich springe mit aller Kraft ab, um in die Landung zu mögen. In dem Moment wird meine Befürchtung bestätigt, es reicht nicht. «F***!», ich schrei mir den Frust vom Leib. Aus gefühlten zehn Metern krache ich auf die Fläche. «Neeeein! Nicht gut!», in meinem Innern beginnt die emotionale Achterbahn. Äusserlich bin ich ruhig. Mein Fuss schmerzt. Zu stark als mir lieb ist. Ich öffne die Bindung, steh auf mein linkes Bein. Kann ich einen Schritt machen? Mein rechter Fuss pulsiert, ich entscheide mich gegen den Schritt und hüpfe einbeinig an den Rand des Kurses.
Der definitive Befund in der Schweiz:
«Hat mit der Rückreise alles geklappt?», erkundigt sich Stefan Fröhlich, Teamarzt während wir auf die Einschätzung vom Fussspezialisten an der Uniklinik Balgrist warten. «Bestens, ich wurde auf Händen getragen! Im Rollstuhl kam ich im Nu durch die Sicherheitskontrolle. Die Damen beim Check-In haben mein zu schweres Gepäck ohne mit der Wimper zu zucken angenommen. Und der Swiss Flug in der Business Class war wirklich angenehm. Unter anderen Umständen könnte ich mich daran gewöhnen.»
Der Erstbefund in den USA zeigte einen gebrochenen Fusswurzelknochen. Daraufhin habe ich die Staaten frühzeitig verlassen, um mich in der Schweiz genaueren Untersuchungen zu unterziehen.
Stefans Telefon klingelt. Er hebt ab, ich warte angespannt. Fehlalarm, signalisiert Stefan. Es ist nicht der Fussspezialist. «Schauen wir doch einfach mal das CT an.», schlägt Stefan vor. Einige Minuten zuvor überbrachte er mir die schlechte Nachricht. Neben dem Cuboid sei ein zweiter Knochen gebrochen. Er habe den Spezialisten kontaktiert und warte auf dessen Einschätzung. «Schau, hier ist das Os naviculare, Kahnbein zu deutsch. Und da ist ein kleines Stück abgebrochen und leicht verschoben. Der Absatz zum Gelenk hin macht mir ein wenig Sorgen. Aber operativ ist das Stück schwierig zu fixieren.» «Also keine OP?», frage ich hoffnungsvoll. «Keine einfache Entscheidung. Ich möchte sowieso noch eine Zweitmeinung hinzuziehen. Spontan tippe ich aber auf eine konservative Behandlung, 6 Wochen Gips.»
«Rot, blau, schwarz oder pink?» «Blau», antworte ich spontan. Oder wäre schwarz die passendere Farbe für meinen Gips? Egal. Ich sitze im Gipszimmer der Balgrist Klinik und sehe den Fachkräften zu wie sie meinen Fuss einpacken. Es wird ein halboffener Gips. Den kann ich zum Duschen ausziehen. Ein kleiner Luxus, der im ersten Moment unbedeutend klingt, aber so viel wert ist.
Mit Stefan ist abgemacht, dass wir die konservative Behandlungsrichtung einschlagen so lange von den Spezialisten keine definitive Einschätzung kommt. Meine nackten Zehen gucken vorne aus dem Gips während ich bei Minustemperaturen zur Tramhaltestelle humple.
«Gute Neuigkeiten!» Stefan ist am Telefon. «Alle Spezialisten sind sich einig. Keine OP.» Ich bin froh, nicht unters Messer zu müssen. «6 Wochen Gips und dann an die WM?», frage ich halb aus Witz, halb aus Hoffnung. «Es tut mir Leid, nein. Nach sechs Wochen sind die Knochen zwar verheilt, aber dann bist noch nicht bereit für Boardercross», zerstört Stefan meine Hoffnung. «Dann ist die Rennsaison hiermit beendet?» «Ich fürchte schon.»
Immer schneewärts,
Simona