Wie Albert Einstein erkannt hat, sind Raum und Zeit relativ. Ohne weiter auf seine Relativitätstheorie einzugehen, greife ich das Stichwort von Raum und Zeit auf. Die ersten sechs Wochen mit meinem gebrochenen Fuss vergingen für mich im Schneckentempo. An Krücken und mein Rehatraining gebunden, fühlte ich mich wie ein Fisch auf dem Trockenen. Nachdem ich den Gips ablegen durfte, fand ich einen Schalter, die Zeit vorübergehend zu beschleunigen. Ich tauschte meinen gewohnten Raum gegen eine Reise an einen aufregenden Ort ein. Tapetenwechsel, Abstand, neue Gedanken.

Stefan fährt mit dem Finger den Kalender runter und zählt laut. «Neun, zehn, elf. In zwölf Wochen ist dann der 13. April. Bis dahin kannst du wieder Snowboard fahren.» «Vorausgesetzt es hat noch Schnee bis dann, geschweige denn Wettkämpfe», kontere ich mit einem Anflug von Sarkasmus. «Wie lange dauert die Saison denn?» «Das letzte Weltcuprennen ist vom 24. bis 26. März. Neun Wochen nach dem Unfall.» Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Vor dem Hintergrund des optimalen Heilungsverlaufs der ersten Wochen nach dem Fussbruch bleibe ich optimistisch. «Könnte knapp werden, aber schauen wir mal nach der sechs Wochen Kontrolle», vertröstet mich der Teamarzt.

Anderes Wartezimmer, gleicher Aufbau. Sitzgelegenheiten, eine Auswahl an Magazinen und Broschüren. Klinisch weisse Einrichtung. «Frau Meiler?», ich stehe auf und folge der jungen Assistentin ins Sprechzimmer des Fussspezialisten. Die Tür fällt ins Schloss und geht sogleich wieder auf. Mein Teamarzt gesellt sich zu uns und wir widmen uns dem Röntgenbild. «Der Fuss sieht super aus. Bewegt gut, da steht einer kompletten Heilung nichts im Weg.» Klingt vielverspechend, dieser Befund. «Also kann ich meine Krücken getrost zu Hause lassen?» «Wenn’s von den Schmerzen her geht, ja. Dann folgt ein langsamer Aufbau. Ich würde sagen noch einmal vier Wochen vorsichtig und dann nach weiteren drei bis vier Wochen vielleicht wieder auf den Schnee.» Halt mal, das entspricht überhaupt nicht meinen Vorstellungen. Bis dahin ist schon eher Bikini- als Snowboardsaison. «Nach neun Wochen wieder Snowboardcross fahren ist schlicht zu riskant.» Die Vernunft siegt. Ich streiche mein kurzfristiges Ziel, das letzte Weltcuprennen anstreben zu wollen. Ohne Aufbau und eine anständige Anzahl Tage auf dem Snowboard gleich wieder an den Start zu gehen, macht weder viel Sinn noch Freude.

Ein Plan B muss her. Ohne Studium und kurzfristiges Ziel fällt mir in Zürich noch die Decke auf dem Kopf. Wie könnte ich mich beschäftigen? Die Idee, ein Englisch Diplom zu machen, geistert schon lange in meinem Kopf herum. Nun scheint der ideale Zeitpunkt dafür gekommen zu sein. Mit dieser Idee geht auf einmal alles sehr schnell. Im Internet suche ich nach Sprachschulen, schaue spontan bei einem Reisebüro in Zürich vorbei und buche. Drei Wochen New York, Englischkurs vormittags, Abflug in drei Tagen.

In New York gibt der Englischkurs meinen Tagen eine Struktur. Ein Fitnessabo verschafft mir Zugang zu den gewohnten Spielzeugen wie Hanteln, Ruderergometer und Gymnastikbällen. Yogastunden bereichern meinen Trainingsalltag. Ausflüge in Museen, Theateraufführungen, Stunden in Cafés,  kulinarische Höhenflüge und alle anderen, scheinbar unbeschränkten Möglichkeiten im Big Apple bringen mich auf neue Gedanken. Mein Fuss heilt, die Englischstunden sind unterhaltsam, die Zeit vergeht schnell.

Wieder zurück in der Schweiz ist das Ende meiner Rekonvaleszenz absehbar. Die neuen Eindrücke aus einem anderen Raum haben die Heilungszeit subjektiv wahrgenommen beschleunigt. Meine freie Interpretation von Einsteins Relativitätstheorie ist also aufgegangen. Ein paar Kurven auf dem Schnee bilden meinen Saisonabschluss. Mit einem gesunden Fuss und wieder gefundener Motivation für die nächste Saison verabschiede ich mich in die Zwischenwelt. Die Zeit zwischen Saisonende und Start in die neue Vorbereitung.

Immer schneewärts,
Simona