Eine Schreibblockade ist es nicht. Vielmehr wird mein klares Denken von zu vielen Eindrücken und Erinnerungen vernebelt. Wo beginne ich mit Erzählen? In den 13 Wintern mit FIS Lizenz habe ich eine Menge erlebt und vieles schon wieder vergessen. Jetzt sitze ich am Schreibtisch und versuche, meine Gedanken und Ideen zu bündeln. Ich beende das Kapitel Spitzensport. Ich gebe meinen Rücktritt. Für diesen Bericht durchforste ich alte, digitale Fotoalben, seh mir Videosequenzen an. Reagiere mal mit einem Schmunzeln, verdrücke ein paar Tränen. Stunden später steht keine neue Zeile auf dem leeren Blatt. Stattdessen treffe ich mich mit zwei Freunden zum Kaffee und erinnere mich an mein Leben als Snowboarderin.

Wie gibt man seinen Rücktritt?
«Ist das jetzt offiziell, du hörst auf?» fragt Manu und blickt mich eher herausfordernd als erstaunt über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg an. «Also, definitiv auf jeden Fall. Aber offiziell habe ich noch nichts kommuniziert. Ich meine, mein Team weiss, dass es meine letzte Saison war. Freude und Familie auch. Aber wie gibt man seinen Rücktritt überhaupt? Ich habe das noch nie gemacht», schmunzle ich. «Du schreibst dem Verband. Die wollen vielleicht eine Pressemitteilung rausschicken», schlägt Manu vor. «Ja, bestimmt. Ich werde meinen Verband informieren. Aber das pressiert jetzt nicht. Ich gönne mir ein paar Tage und schreibe zuerst ein paar Zeilen an all jene Leute, die mich auf meinem langen Spitzensportweg begleitet haben.»

Erste Rennen, erste Erfolge, erste Erfahrungen
«Du fährst wirklich schon lange Snowboardcross», findet Thomas und setzt sich zu uns. «So lange, dass ich selber nachschauen musste, wann alles begann», bestätige ich. Im Januar 2005 fuhr ich mein erstes FIS-Rennen. Von da an ging alles sehr schnell. Junioren WM im gleichen Winter. Das erste Weltcuprennen im Herbst danach. «Verrückt, du bist mit 16 Jahren Weltcup gefahren», staunt Manu. Ich rechne kurz nach: «Genau. Die ersten paar Winter fuhr ich alles, FIS Rennen, Europacups und bereits erste Weltcuprennen.» Zu jener Zeit war ich noch an der Bündner Kantonsschule. «Seit wann bist du Profi?», fragt Thomas. «Definiere Profi», fordere ich. «Naja, ich meine, seit wann kannst du vom Sport leben?», präzisiert er. «So genau weiss ich das nicht. Für mich hat der Profi Status viel mehr etwas mit der Einstellung zu tun.» Ich erinnere mich an meine erste WM in Arosa im Winter 2007. Eher überraschend durfte ich mich an jenem Grossanlass messen. Profi war ich zu jener Zeit noch nicht. Im selben Winter gewann ich den Gesamteuropacup. So richtig ernst nahm ich mich als Sportlerin erst, als sich erste Erfolge im Weltcup abzeichneten. «Ein kleiner Schlüsselmoment für mich war der Weltcup in Südkorea im 2008, wo ich die Qualifikation gewann. Damit habe ich alle überrascht, mich selber inklusive. In den Finals jenes Rennens überholte ich Lindsey Jacobellis innen durch eine Kurve. Sie war damals die unangefochtene Snowboardcross-Queen. Mir fehlte zwar noch die Erfahrung, so einen Lauf ruhig ins Ziel zu bringen. Aber ich hatte im Weltcup Fuss gefasst.»

Eine Sportart im Wandel
«Die Sportart hat sich seither ganz schön verändert», finde ich. Zu Beginn bestritt ich meine Rennen auf NeverSummer Snowboards. Der Wechsel auf die handgefertigten, personalisierten Kessler Snowboards war ein erster Schritt. Das Material hat sich stark entwickelt. Heute hätte man im Weltcup mit einem Serienboard keine Chance mehr. «Die Strecken wurden auch immer grösser und krasser», findet Manu. Wurden sie das wirklich? Erst nachdem ich mir zehnjähriges Videomaterial angeschaut habe, kann ich Manu zustimmen. «Was sich aber noch viel stärker entwickelt hat, ist die Physis der Athleten und die Leistungsdichte», stelle ich fest. «Früher kam man mit einem durchschnittlichen Lauf schnell einmal in die Finals. Heute bleibt kaum mehr Platz für Fehler.»

Höhepunkte und Glanzmomente
«Was war das Highlight deiner Karriere?» fragt Thomas und bringt eine weitere Runde Kaffee. «Die Summe aller Erlebnisse, Emotionen und speziellen Momente», antworte ich vage. Einen einzigen Höhepunkt zu definieren gelingt mir nicht. «Klar war der erste Weltcup Podestplatz sicher ein Höhepunkt. Das war ein unglaubliches Rennen für mich. Alles hat gepasst», erinnere ich mich an Telluride (USA) im Dezember 2009. «Damit hattest du dir dein erstes Olympiaticket gesichert, oder?», fragt Manu nach. «Ja, und bei mir ist so etwas wie der Knopf aufgegangen, dass ich ganz vorne mitfahren kann. Im selben Winter wurde ich noch ein zweites Mal Zweite und schloss den Weltcup auf dem 5. Gesamtrang ab.» «Welche Olympischen Spiele waren die Besten?», will Thomas wissen. «Du erwartest nicht ernsthaft eine Antwort darauf?» Ohne Thomas’ Reaktion abzuwarten fahre ich fort: «Alle drei Spiele waren auf ihre Art schön. Meine eigene Entwicklung über die Jahre hat meine Sicht auf die Dinge jedes Mal etwas anders gefärbt. Ich möchte keine dieser Erfahrungen missen.»


Neben der Piste – Sport als Lebensschule und Türöffner
Natürlich habe ich auch neben der Piste einiges erlebt. Es heisst nicht umsonst, Sport sei eine Lebensschule. «Wie hast du dein Studium und Sport unter einen Hut gekriegt?», fragt Manu. «Dank dem Sport habe ich gelernt, ehrgeizig, konzentriert und diszipliniert zu arbeiten. Zudem war ich früh gezwungen, Prioritäten zu setzen. Das hat mir im Studium auch immer geholfen.» Im Sport habe ich gelernt, auf mein Bauchgefühl zu hören und meinen Instinkten zu vertrauen. Ich habe gelernt, Herausforderung anzunehmen und mit Situationen ausserhalb meiner Komfortzone umzugehen.
«Als Sportlerin habe ich Dinge erlebt, zu denen ich sonst nie Zugang gehabt hätte.» «Woran denkst du?», will Thomas wissen. «An den Besuch im Bundeshaus als Vertreterin der Rumantschia im Ausland. An die Rede an der Bündner Kantonsschule für die Absolventen im Sommer 2013. An ein paar Szenen im Dokumentarfilm «To Russia with Love» (zu sehen auf Netflix). An VIP Anlässe wie dem Besuch des F1 Rennens in Spa Francorchamps bei Sauber hinter den Kulissen. An ein Treffen mit Jacques Rogge beim IOC in Lausanne. All das hätte ich ohne Sport nie erlebt.»

Zeit für Neues
«Aber jetzt mal ehrlich, wieso hörst du auf? Du lebst deinen Traum», findet Thomas. «Es ist Zeit für Neues. Für eine Veränderung.» In meinen Schilderungen fehlten die Situationen, die weniger aufregend und rosig sind. «Spitzensport kann ganz schön anstrengend sein. Wir sind oft Einzelkämpfer und es kann viel Energie kosten, die Motivation fürs tägliche Training zu finden. Im Sommer auf den Gletscher zu fahren. Von Verletzungen zurückgeworfen zu werden», gebe ich zu bedenken. Anfangs hat das Neue, Unbekannte überwogen. Reisen, fremde Länder entdecken, Freundschaften mit Sportlern aus aller Welt schliessen, Fremdsprachen sprechen, snowboarden. Alles war aufregend und spannend. Dieser Reiz nahm mit der Zeit ab. «Mittlerweile warten in meinem Masterstudium neue Herausforderungen auf mich. Was mich anfangs am Snowboarden reizte, finde ich nun an der ETH. Ich werde auf einer kognitiven Ebene gefordert, mit Unbekanntem konfrontiert.» «Aber wird’s dir nicht langweilig an der ETH, so ganz ohne Sport?» gibt Manu zu bedenken. «Kaum. Ich arbeite nebenbei. Zum einen mache ich so etwas wie eine Lehre zur Kaffeerösterin. Bei Vertical Coffee bin ich ab sofort jeden Montag in der Rösterei anzutreffen. Ich freue mich, ein Handwerk zu lernen. Weiter arbeite ich 20% für die Kaffeezentrale.» «Und snowboarden wirst du sicher weiterhin», schätzt Thomas. «Auf jeden Fall. Ohne Wettkämpfe, dafür weiterhin mit viel Freude und Leidenschaft.»

Herzlichen Dank dafür, dass ihr mich all die Jahre auf und neben dem Schnee begleitet habt!

Immer vorwärts,
Simona

Meine Karriere in Zahlen

# Starts

  • Weltcup 66
  • Europacup 20
  • FIS Rennen 14

Olympische Spiele

  • Vancouver 2010, 9. Rang
  • Sochi 2014, 10. Rang
  • PyeongChang 2018, 22. Rang

Grossanlässe

  • 3 x WM
  • 5 x Junioren WM
  • 4 x X Games
  • 1 x Universiade (3. Rang)