Liebe Absolventinnen und Absolventen der Fach- und Handelsmittelschule

Ich begrüsse euch ganz herzlich zu eurer Abschlussfeier. Ihr habt euer Ziel erreicht und dazu gratuliere ich euch von Herzen. Ganz herzlich begrüsse ich auch alle Anwesenden und „Coaches“, die euch auf eurem Weg begleitet haben.

Als ich angefragt wurde, diese Rede hier, an dieser Abschlussfeier zu halten, hat sich im ersten Moment etwas in mir heftig dagegen gesträubt. Ich habe mich gefragt, was um Himmels Willen ich erzählen könnte, das interessant wäre und womöglich gar lehrreich oder nützlich sein würde. Im Sport habe ich gelernt auf mein Bauchgefühl zu hören und meinen Instinkten zu vertrauen. Ich habe aber auch gelernt, Herausforderung anzunehmen und mit Situationen ausserhalb meiner Komfortzone umzugehen.

Vor fünf Jahren bin ich an eurer Stelle gesessen. Schon während meiner Kantizeit und insbesondere in der Zeit danach hat mich der Sport einiges gelehrt und ein paar dieser Erfahrungen und Anekdoten möchte ich nun mit euch teilen. Diese Lerneinheiten, die ausserhalb der Mauern der Bündner Kantonsschule stattfanden, konnte ich oft auch auf mein Leben als Studentin oder in Alltagssituationen anwenden.

Ich gehe davon aus, dass die meisten von euch wissen, was Boardercross ist. Wenn ich an Orten, wo Wintersportarten weniger bekannt sind, gefragt werde, was für eine Sportart ich machen würde, bringe ich meistens das gleiche Beispiel zur Erklärung. Und dieses Beispiel schauen wir uns am besten gleich gemeinsam an:

Nachdem ich den Leuten Boardercross anhand dieses Beispiels erklärt habe, erinnern sich die meisten an diese Bilder, die in der Schweiz im Fernsehen ein paar Mal zu sehen waren. Ich kann mir vorstellen, dass ihr selber vielleicht bereits etwas zu jung seid, um euch an die Olympischen Spiele von Turin im Jahre 2006 zu erinnern. Trotzdem denke ich, dass ihr genauso reagieren würdet wie der Grossteil der Leute, mit denen ich über dieses berühmte Final spreche. Es kommt nämlich immer gleich der Kommentar, Tanja Frieden hätte Glück gehabt und ohne Lindsey Jacobellis Hilfe nie ihren goldenen „Plämpu“ geholt. Stimmt doch, oder?

An dieser Stelle kommen wir aber auf einen Punkt zu sprechen, der in jeder Sportart und ganz besonders bei Boardercross eine wichtige Rolle spielt, wo 4 oder 6 Fahrer gleichzeitig um den Sieg kämpfen. Das Rennen ist nämlich erst über der Ziellinie fertig und keinen Zentimeter davor. Das ist eine der ersten Lektionen, die mich der Sport gelehrt hat. Ich habe gelernt zu kämpfen bis das Rennen zu Ende ist. Im Boardercross erlebe ich oft Situationen, wo nach einem misslungenen Start oder Fahrfehler, die Ausgangslage dermassen aussichtslos scheint, dass ich versucht bin, den Lauf sofort abzubrechen. Genau dann gilt es, mich zu konzentrieren und so schnell wie möglich zurück ins Rennen zu finden. Man kann ja nie wissen, was noch passiert. Die Fahrerinnen vor mir könnten eigene Fehler machen oder stürzen. Diese Einstellung, vom Kämpfen bis zum Schluss, hat mich dann auch oft schon eine Runde weitergebracht an meinen Rennen.

Schauen wir uns doch noch einmal genauer an, wer in diesem Olympiafinal stand. Tanja ist an jenem Tag das Rennen ihres Lebens gefahren und hat ihren Plämpu geholt. Maelle Ricker, die als erste gestürzt ist, hat ihr Ziel sicher nicht erreicht. Sie hat aber in Vancouver an den nächsten Olympischen Spielen Gold gewonnen und zusätzlich zahlreiche Weltcup Podestplätze eingefahren. Dominique Maltais, die zweite Kanadierin in diesem Final, beendete das Rennen in den Fangnetzen. Aber auch sie stand nach dieser Niederlage auf und dominierte in den letzten Jahren. Sie gewann zweimal hinter einander den Gesamtweltcup. Und schliesslich Lindsey Jacobellis, die tragische Figur in diesem Final, hat in ihrer Karriere 7 Mal die X-Games gewonnen, wurde 3 Mal Weltmeisterin und stand bei 26 Weltcuprennen zu Oberst auf dem Podest. Damit komme ich zur einer weiteren Lektion, die ich gelernt habe. Verlieren, Niederlagen und Stürze gehören zum Sport. Was zählt, ist, dass man wieder aufsteht und weitermacht. Am Ende überwiegt nämlich das eine Mal, wo man zu Oberst auf dem Podest steht und für die ganze Mühe ausbezahlt wird.

Wenn wir uns den Lauf von Turin noch einmal in Erinnerung rufen, gab es eine Situation, wo Tanja von hinten auf Lindseys Board gefahren ist und dadurch Geschwindigkeit verlor. Dies ist eine typische Situation für einen Boardercross. In den Heats, also den Läufen, wo wir zu 4 oder 6 starten, werden wir laufend vor neue Herausforderungen und Probleme gestellt. Dann gilt es, in Sekundenbruchteilen Entscheidungen zu treffen. Häufig muss man von der Ideallinie abweichen und sogar in einem ersten Moment etwas Geschwindigkeit rausnehmen, um später überholen zu können. Ich gehe mit einem klar definierten Ziel an den Start, kenne die Ideallinie und muss trotzdem flexibel und offen genug sein, auf alle möglichen Situationen reagieren zu können.

Ich fasse diese Beispiele noch einmal zusammen. Als erstes habe ich gelernt, zu kämpfen bis ich im Ziel bin. Dann habe ich gelernt, mich von Niederlagen nicht unterkriegen zu lassen, aus Stürzen zu lernen, mich aufzurappeln und weiterzukämpfen. Und schliesslich der für mich wichtigste Aspekt; ich habe stets ein klares Ziel vor Augen. Der Weg zu diesem Ziel ist aber offen und häufig gestaltet er sich anders, als ich es mir ursprünglich ausgemalt hatte.

Ihr alle habt euer Ziel heute erreicht. In den vergangenen Jahren an dieser Schule musstet ihr sicher auch einmal einen Sturz hinnehmen und mit einer schlechten Note oder einer anderen Niederlage umgehen. Eure Wege zu diesem Abschluss sehen alle anders aus und trotzdem darf jeder von euch heute hier zu Oberst auf dem „Podest“ stehen. Geniesst diesen Erfolg!

Ihr werdet nun alle eine neue Herausforderung annehmen, euch ein neues Ziel setzen. Ich wünsche euch, dass ihr ein für euch passendes Ziel findet und dieses im Auge behält. Was mir aber viel mehr am Herzen liegt, ist, dass ihr auf dem Weg zu euren neuen Ziel, den Mut habt, einmal etwas zu bremsen, einen Umweg zu nehmen und die Aussicht zu geniessen.